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MILCHZÄHNE – eine dystopische Erzählung vom Rand der Welt
Aktualisiert: 16. Dez. 2020

Ein Buch, das zur Pflichtlektüre in der Schule werden könnte. Werden sollte. So eindrucksvoll und beklemmend beschreibt die 27-jährige Autorin Helene Bukowski eine dystopische, vom Klimawandel gezeichnete Zukunft, dass sich eine leise Angst meldet, eine Vorahnung, wie es vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft einmal auf diesem Planeten aussehen könnte. Es ist eine Geschichte über Ausgrenzung, exklusive Gemeinschaft und Menschlichkeit, oder was von ihr noch übrig ist, wenn es ungemütlich wird auf der Welt. Wo Fluss und Einöde das Land eingrenzen, sind es Vorurteile, Xenophobie und eine tiefgreifend protektionistische Weltsicht, die die Menschen in ihren Köpfen und ihrer Menschlichkeit begrenzen, im Angesicht der Katastrophe.

„Die Sonne bekommen wir kaum zu Gesicht, doch das wird sich ändern. Einen ersten Vorboten gibt es bereits, die Tiere verlieren nun auch hier ihre Farbe.“
Helene Bukowski | Milchzähne
Frisch aus der Buchhandlung besorgt, war ich zugegebenermaßen ein wenig nervös. Das erste Mal ein neues Buch aufschlagen ist immer aufregend, aber von dieser Lektüre hatte ich mir viel versprochen. Anders soll sie sein und eindringlich. Ich mochte den Titel. Und den Klappentext. Und ich wusste, dass die Geschichte mir Angst machen könnte. Umso neugieriger war ich!
Zu Beginn wird man unvermittelt in das Geschehen, die Landschaft eingesogen, schon die erste Seite macht Lust auf mehr, aber vermittelt auch bereits ein starkes Gefühl der Beklemmung. Eine extrem aussichtslose und fast depressive Lebenssituation wird beschrieben, in der Skalde mit ihrer Mutter Edith lebt. Ein Land, ein Haus, ein Garten am Ende der Welt. Wo es nur wenige Dinge zu tun gibt, wie Kartoffeln anlegen, Dünger aus Brennnesseln herstellen und tote, vom Himmel fallende Möwen zu begraben. Obwohl man sofort in die Geschichte hinein gezogen wird, lesen sich die ersten Passagen ein wenig wie eine Berichterstattung, eine Beschreibung des Status quo. Hier verliert sich, wie ich finde, die Autorin an wenigen Stellen zur sehr in Beschreibungen der Situation und des Zustands. Spannend bleibt es trotzdem. Die Sprache ist klar und anregend. Man fühlt sich Skalde der Protagonistin sehr nahe. Fühlt ihre Angst, wenn sie das Grundstück nicht verlassen darf. Brennt mit ihr, wenn sie langsam das Lesen lernt und überall im heruntergekommenen Haus Zettel mit selbst geschriebenen Sätzen versteckt, damit die Mutter sie nicht findet. Erschrickt, wenn sie von den Tieren erzählt, die sich verändern oder auf einmal verschwunden sind, wie die Vögel, die nicht wieder kommen.
Mit beeindruckender Intensität und Detailwissen schreibt die Autorin über die Auswirkungen des Klimawandels auf eine Gesellschaft, die weit entfernt scheint, jedoch bald unsere Zukunft sein könnte.

„Wir finden sie zwischen Treibholzstücken und Plastikmüll. Niemand weiß, ob wir von ihnen krank werden, aber unser Hunger ist größer als unsere Furcht.“
Helene Bukowski | Milchzähne
Als Skalde einen Milchzahn verliert, ändert Edith plötzlich ihr Verhalten ihr gegenüber, nennt sie „einen von ihnen“ und dass sie wohl „nach ihrem Vater kommt", ohne das klar wird, was es damit auf sich hat. Nur eines ist klar: Plötzlich gibt es da eine Grenze in der Mutter-Tochter-Beziehung. Eine unsichtbare, aber deutliche. Überhaupt sind Grenzen ein Kern der Geschichte. Das Durchbrechen sowie das Aufziehen von Grenzen.
Als das Kind auftaucht mit Haaren „rot wie angezündet“ nimmt die Geschichte an Fahrt auf und wird sofort dynamischer. Plötzlich steht es da im Wald vor Skalde, den sie sich gerade erst erobert hat, als sie gegen den Willen der Mutter die Grenzen des Grundstücks verlassen hatte. Auch das Kind, Meisis, ist eine Grenzgängerin wie Skalde selbst, obwohl diese nicht so recht weiß, warum eigentlich.
Skalde nimmt das fremde Kind mit nach Hause. Und nun verschärft sich der Konflikt zwischen Mutter und Tochter, der zu Beginn schon angedeutet wurde. Edith lehnt es ab, das Kind, das aufgrund der genetischen Disposition für rote Haare aus der Fremde kommen muss: „Niemand von den anderen hat solche Haare", „von hier kann es nicht sein“.

„Auf der Flucht in einem klar abgesteckten Gebiet beginnst du, im Kreis zu gehen. Die Entfernung wird sich dabei nicht vergrößern, es bleibt, den wirklichen Abstand im Kopf zu messen.“
Helene Bukowski | Milchzähne
Edith, die selbst einst aus der Fremde in den Ort kam und dort von Nuuel, Skaldes Vater aufgenommen wurde, sieht keine Möglichkeit, dass das Kind in die Gesellschaft integriert werden könnte – ihr selbst ist es nach zwanzig Jahren nicht gelungen. Es ist eine Geschichte von Ausgrenzern, Ausgegrenzten, die selbst ausgrenzen und über die Umstände, die die Gemeinschaft zerbrechen lassen. Die Lage wird zunehmend bedrohlicher, als die Bewohner das Haus von Skalde und Edith umzingeln und sie auffordern, Meisis auszuliefern ...
Persönlich fand ich es etwas ungewöhnlich, dass Skalde immer Zigaretten bei sich hat, wo alles andere doch so knapp ist inklusive Kaffee und Benzin. Kurz störte ich mich daran, doch dann kam mir die rauchende Skalde wie eine Brücke in die Gegenwart vor, die die Geschichte umso unheimlicher und bedrohlicher erscheinen lässt: Immer wenn Sie sich in der Handlung eine Zigarette angezündet hat, hatte ich das Gefühl, neben ihr am Balkon zu stehen und mich mit ihr über den Klimawandel unterhalten zu können ...
Unbedingte Empfehlung! Das Buch macht nicht nur nachdenklich, sondern rührt an Stellen, blinde Flecken der Gesellschaft, über die man ungern nachdenkt. Spricht Themen an, mit denen wir uns auseinandersetzen sollten und müssen. Das Buch wird in vielen Rezensionen als Märchen bezeichnet, so metaphorisch und fantasievoll wie es in der Gattung Märchen häufig zugeht, finde ich die gezeichnete Dystopie jedoch gar nicht. Aber macht euch am besten selbst ein Bild. Ich freue mich auf eure Meinungen!